Frau Hannöver-Meurer, die Politik streitet aktuell über die Kindergrundsicherung. Bisweilen hat man den Eindruck, dass Wesentliches aus dem Blick gerät: Nämlich die betroffenen Kinder. In Hessen ist fast jedes vierte Kind von Armut gefährdet, in Rheinland-Pfalz mehr als jedes fünfte. Kämpfen wir als Gesellschaft entschlossen genug gegen Kinderarmut?
Wenn ich darauf schaue, worauf in unserer Gesellschaft gerade die Aufmerksamkeit liegt und wofür Ressourcen gegeben werden, dann bin ich da überhaupt nicht zufrieden. Gleichzeitig spannen wir als Gesellschaft ein großes soziales Netz und schaffen Unterstützungsmöglichkeiten. An dieses Netz knüpfen wir mit der Kindergrundsicherung an. Es geht ja um das Zusammenführen vieler Maßnahmen. Das ist absolut zu begrüßen. Viele, die den Anspruch auf Unterstützung haben, wissen gar nicht darum. Wir müssen in einem ersten Schritt den Zugang niederschwelliger gestalten. Das kann schon viel verändern. Wir müssen aber in einem zweiten Schritt auch diskutieren, ob die aktuelle Höhe der Unterstützung ausreicht.
Familienministerin Lisa Paus hat Kinderarmut als "Schande für Deutschland" bezeichnet…
Ich finde das schwierig. Per Definition wird es durch einen relativen Armutsbegriff in Deutschland immer Kinderarmut geben. Was wir brauchen, ist eine Politik, die verhindert, dass sich Armutslagen verfestigen. Das ist in der Vergangenheit nicht gelungen. Es gibt Lebensentwürfe, bei denen das Armutsrisiko besonders hoch ist, etwa bei Alleinerziehenden mit Kindern. Hier besteht die Gefahr, dass Armut an nächste Generationen weitergegeben wird. Aber intervenieren wir da immer an der richtigen Stelle? Ich sehe da noch Potenzial.
Welche konkreten Folgen hat das Leben in Armut für Kinder?
Es gibt da vier Dimensionen: Das eine ist das Materielle, etwa Essen, Trinken, Wärme und Kleidung. Unser soziales System garantiert in der Regel, dass dieser Mindeststandard erfüllt ist. Aber auch hier gibt es bereits starke Einschränkungen. Neue Schuhe, Markenkleidung oder Hobbys, für die eine bestimmte Ausstattung benötigt wird, können sich Kinder damit nicht leisten.
Wichtiger sind für mich soziale Auswirkungen: Armut macht einsam. Ein Beispiel. Zum Kindergeburtstag in den Trampolinpark oder ins Kino zu fahren. Das ist bereits eine hohe Messlatte. Geld für ein Geschenk? Auch daran kann es schon scheitern. Betroffene Kinder können da oft nicht mithalten. Das auszuhalten, ist nicht einfach und wird durch die Stigmatisierung von Armut noch erschwert. Kinder schützen sich dann selbst und erfinden manchmal aus Scham auch Ausreden.
Welche anderen Dimensionen gibt es noch?
Es kann direkte Auswirkungen auf die Bildungsbiografien junger Menschen geben. Kann das Kind zum Beispiel auf das Gymnasium, obwohl kein Geld da ist für die teuren Arbeitsmittel und Materialien oder für eine Fahrkarte? Was ist mit einem Schüleraustausch? Es gibt viele versteckte Ausschlussmechanismen und gerade in der Schule müssen wir da sensibel sein. Das setzt sich aber auch in Ausbildung und Studium fort. Der Zugang zu Bildung hängt massiv vom Lebensstandard und dem Einkommen der Eltern ab.
Zuletzt gibt es noch die physischen und psychischen Folgen. Die sind besonders beschämend, weil Kinder schon in ihrer Entwicklung gebremst werden. Schlechtere Ernährung, Bewegungsarmut, wenig Naturerfahrung oder Beeinträchtigungen der Gesundheit können Folgen von Kinderarmut sein. Manche wirken sich auf das ganze Leben eines Menschen aus.
Wie lassen sich die Folgen von Kinderarmut bekämpfen?
Natürlich muss die Politik auf die Erwerbsbeteiligung schauen und Eltern befähigen, dass Sie ein auskömmliches Einkommen haben. In manchen Fällen wird dies aber das Problem nicht lösen. Denn es gibt immer auch einen kleinen Teil bei den Eltern, die, aus welchen Gründen auch immer, nichts an der eigenen Situation ändern können. Hier setzen wir als Caritas an und unterstützen mit unseren Einrichtungen und Diensten einerseits die Eltern, andererseits bieten wir Kindern aber auch einen Zugang zu Selbstwirksamkeit und Bildung. Wir arbeiten dazu auch in Netzwerken zusammen. In Hessen gibt es das Landesprogramm "Präventionsketten gegen Kinderarmut". Hiermit werden Kommunen unterstützt, ganzheitliche und passgenaue Konzepte zu entwickeln und die Vernetzung der Akteure von der Kita und Grundschule bis hin zu offenen Jugendtreffs, Sportvereine, Bildungsinstitutionen und Kommunen gefördert.
Wie sieht die Unterstützung der Caritas im Bistum konkret aus?
Sie beginnt bereits bei den Frühen Hilfen und der Schwangerschaftsberatung, die natürlich auch von Frauen in prekären finanziellen Lagen aufgesucht werden. Wir unterstützen die Eltern beispielsweise bei der Antragstellung bei der Bundesstiftung Mutter und Kind. Dort, wo kein Anspruch vorliegt, helfen wir auch mit dem Bischöflichen Hilfsfonds, der sich aus kirchlichen Mitteln speist. Unsere Hilfe beschränkt sich aber nicht nur auf das Finanzielle oder die Erstausstattung von Kindern. Mit Almosen ist niemandem dauerhaft geholfen. Wir versuchen Frauen in Begleitstrukturen unterzubringen, zum Beispiel in Müttertreffs oder vermitteln in die Allgemeine Sozial- und Lebensberatung oder bei Bedarf in die Schuldnerberatung. Wir brauchen eine langfristige Unterstützung. Da geht es dann auch um Selbstbefähigung und Empowerment.
Zu Beginn steht also die Unterstützung der Eltern. Wann rückt das Kind in den Blick?
Mit der Aufnahme in die Krippe und dem Besuch in einem Kindergarten. Es gehört zu unserem pädagogischen Grundauftrag und Verständnis, dass wir auch die Situation der Familien kennen und sie bedenken. Wenn ich zum Beispiel darum weiß, dass Kinderarmut auch Bewegungsarmut und mangelnde Naturerfahrungen zur Folge haben kann, kann ich darauf reagieren. Oder: Wir gestalten in unserer Einrichtung Angebote bewusst so, dass alle Kinder und deren Familien teilnehmen können. Früher gab es Zusatzbeiträge oder Bastelgeld. Darauf verzichten wir jetzt. Als Verband haben wir hier eine Checkliste für die Einrichtungen erarbeitet. Ich kenne zahlreiche Kitas, die das wirklich ganz hervorragend und sehr niederschwellig machen. Und doch ist oftmals noch viel mehr Engagement und Kreativität gefordert. Kinderarmut bedeutet nicht nur, dass keine Markenklamotten getragen werden können oder das Biobrötchen in der Brotdose fehlt. Da geht es oft um grundsätzliche Entwicklungsthemen.
Wie sieht das Engagement der Caritas mit Blick auf Schulen aus?
Ab 2026 wird der Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung umgesetzt werden. Die Mitglieder der Caritas sind in Hessen und Rheinland-Pfalz mit unterschiedlichen Formaten beteiligt. Hier können betroffene Kinder beispielsweise einen Platz zum Lernen finden, den sie zuhause nicht haben. Es gibt Unterstützung bei den Hausaufgaben und Ansprechpartner, die bei Fragen helfen. Gut gestaltete und inklusive Ganztagsbetreuungsangebote sind auf jeden Fall eine Chance gegen die Folgen von Kinderarmut. Wir kommen aus einer Zeit, wo die Grundschulpädagogik am Mittag aufgehört hat und dann die Verantwortung in die Familien übergeben wurde. Das passt heute nicht mehr.
Die Caritas unterhält mit Jugendtreffs auch Angebote der offenen Jugendarbeit. Wie sehen Sie deren Rolle bei der Bewältigung der Folgen von Kinderarmut?
Offene Kinder- und Jugendtreffs haben wir hauptsächlich noch im städtischen Bereich. Beispielsweise durch die Ausweitung der Schulzeiten ist das aber zurückgegangen. Ich habe selbst in einem Mädchentreff gearbeitet. Da waren damals viele Mädchen, die dort ihre Hausaufgaben gemacht haben, weil es zuhause nicht ging, wegen der Geschwister oder der engen Wohnsituation. Da kamen auch Kinder, die bei uns einfach ausruhen wollten und dann in einer gemütlichen Ecke geschlafen haben. Wir machen uns keine Vorstellungen, was es heißen kann, in Armut und damit oft auch in prekären Wohnsituationen zu leben.
Unter dem Motto #starkekids rückt die Caritas im Bistum Limburg vom 17. Oktober bis zum 15. November das Thema "Kinderarmut und Bildung" in den Mittelpunkt. Damit Kinder und Jugendliche gut aufwachsen und ein selbstbestimmtes Leben führen können, unterstützt die Caritas sie und ihre Familien mit verschiedenen Bildungsprojekten, Diensten und Einrichtungen vor Ort. Dabei geht es sowohl um konkrete Hilfen, Unterstützung und Beratung in unterschiedlichen Lebenslagen als auch um die Vermittlung von Werten sowie die Stärkung des Selbstbewusstseins. Die Artikelserie ist ein Beitrag zu den bundesweit laufenden "Armutswochen". Die Caritas sensibilisiert mit den Aktionswochen für das Thema Armut.
Eva Hannöver-Meurer leitet das Kompetenzfeld Kinder. Jugend. Familie. Integration. im Caritasverband für die Diözese Limburg. Als Referentin ist sie zudem zuständig für die Psychologischen Beratungsstellen im Bistum Limburg tätig.